Im September 2005 ist mir die Idee zu meinem ersten Marathonlauf
gekommen. Einmal muss man das Ding ja mal abhaken, auch
wenn ich bis heute sage: "Nicht meine Strecke!".
Es ging mir nicht um "Durchkommen" - ich meine,
dazu bedarf es letztendlich lediglich einiger 30er Trainingsläufe
- sondern ich wollte eine Zeit von 2:59:xx. Sub3 erschien
mir anspruchsvoll, aber angesichts meiner 1:24er Halbmarathonzeit
in 2005 nicht unmöglich. Die nächsten 7 Monate
bin ich dann fast 1900 km gelaufen, was mein Körper
mir mit diversen orthopädischen Problemen quittierte,
die am Ende einen Start tatsächlich in Frage stellten.
Die letzten 2 Erholungswochen vor dem 30. April ließen
dann aber meine Ischiasschmerzen in einen erträglichen
Bereich wandern und am Morgen des Starts war ich nicht nur
fast schmerzfrei im Bein, sondern auch noch ein wohl einziges
Kohlenhydrat - soviel Nudeln und Reis hatte ich in den Tagen
vorher in meinen Körper gedrückt. Zugeständnis
an meine orthopädischen Probleme: Als Rennschuhe mussten
fett gedämpfte Puschen herhalten, die zwar Zeit kosten,
aber so sollte ich wenigstens durchkommen.
Vor dem Rennen hatte ich wegen bereits absteigender Form
und der zu erwartenden Schmerzen am Ischias mein Ziel 2:59:xx
ad acta gelegt und wollte den Halbmarathon eigentlich in
einer hohen 1:31 angehen. Meine mitgeführte Lauftabelle
zielte auf eine 3:03. Wenn dann aber der Startschuss fällt
und du merkst auf den ersten Kilometern, dass die letzten
2 Wochen Tapering formmäßig ein kleines Wunder
bewirkt haben, vergisst du alle Pläne und läufst
nach Gefühl. Und das war wider Erwarten top.
Bei KM 5 steht 20:25 min auf der Uhr, die Beine fliegen,
der Atem geht ruhig, das Wetter ist für mich von perfekt
prickelnder Kühle - ich glaube, ich habe gerade Spaß
ohne Ende. Da kommt schon meine erste Flasche an der Versorgungsstelle
auf mich zu ... mmmhhhh ... lecker - Salzwasser mit Maltodextrose.
Ich laufe jetzt durch Duisburger Gegenden, die ich selber
nicht so gut kenne, also ein wenig Sightseeing machen. Von
hier habe ich den Hafen noch nicht gesehen und beim MSV
war ich auch noch nie. Die erste Frau hat mich wohl gerade
tragischerweise langsam überholt und ich bin froh,
dass die Labertaschen im sich langsam entfernenden Begleitwagen
uns endlich kein Kotelett mehr an die Backe quatschen.
KM 10: 41:27 min - und die Frisur sitzt. Inzwischen habe
ich 2 Laufpartner gefunden und das Tempo ist perfekt. Alleine
laufen kommt noch, das ahne ich, also jetzt den Lauf zu
dritt genießen. Irgendwo von Meiderich bis Ruhrort
erwischt uns dann der Regen, aber es ist nicht viel mehr
als eine nette Erfrischung und die Schuhe bleiben zum Glück
trocken. Irgendjemand murmelt mal "Scheiße!",
aber ich war es nicht. Meine Frau reicht mir eine Flasche
und ein Häppchen - funktioniert ja alles wie am Schnürchen.
Die Rheinquerung findet dann wieder bei Sonnenschein statt.
Ist das ein geiler Lauf - Hallo Vatter Rhein, da bisse ja
wieder! KM 15 war nun auch vorbei: 1:02:25.
Bei der HM-Marke erwarten mich dann schon wieder meine
Groupies, Versorgung mit Naschwerk, kurzer Gruß und:
"Leck mich am Arsch 1:28:06 h!" Und ich fühle
mich immer noch gut. Dass die Rache noch kommt, ahne ich,
aber so ganz vernünftig war ich noch nie. Also ...
egal ... weiter. Ist doch besser, jeder macht seine Erfahrung
selbst. Wenige Kilometer später musse ich mich dann
von meinen beiden treuen Begleitern verabschieden: Pipipause.
Ich weiß nicht, wo die anderen das ganze Zeug hinsaugen,
aber ich hatte soviel getrunken, das muss jetzt raus. Diese
Aktion kostet mich mal locker 22 Sekunden. Aber noch liege
ich gut in der Zeit.
Ab KM25 beginnt sich das Feld auseinanderzuziehen. Die
ersten Leute fallen von vorne zurück. Auch bei mir
lassen jetzt die Kilometerzeiten um ca. 5 Sekunden nach.
Ich denke nur: "Jetzt fängt es langsam an!"
und trabe schon nicht mehr ganz so locker flockig über
die Rheinbrücke nach Duisburg Hochfeld. Hier erwartet
mich ein Tütchen Gel. Ein Problem in Duisburg war übrigens
die Versorgung über die Eigenversorgungstische. Erstens
waren die nicht nummeriert, was schlecht ist, wenn man sich
mühsam gemerkt hat: "Tisch 1, 2, 6, 8, 13, 16."
und zweitens stehen die Helfer oft dicht gedrängt vor
den Tischen, so dass man ratend, ob das denn jetzt der richtige
Tisch sei, hinter die Helfer springen muss und seine Pulle
sucht. Kostete mich locker 10 Sekunden an 2 Tischen. Aber
in Hochfeld habe ich ja wieder meine persönliche Versorgerin,
da konnte nichts schiefgehen. Das Geltütchen fliegt
mir in die Hände und ich habe noch ca. 300 Meter bis
zum nächsten Wassertisch.
Aber was ist das? Mein Darm hatte sich schon ab und zu
vorher bemerkbar gemacht. Während andere hemmungslos
ihrer Flatulenz frönten, hatte ich mich bisher zurückgehalten.
Aber das ist jetzt mehr als eine leichte Flatulenz. Verdammt
noch eins! Ich brauche ein Dixi-Klo - und das schnell. Zum
Glück kommt da vorne die Versorgungsstelle. Und das
Klo ist frei. Rein, Hose runterreißen. Während
draußen zu Sambaklängen die 3h Truppe an meinem
kleinen, einsamen, graublauen Verschlag vorbeizieht, fällt
mir in Zeitupe das Geltütchen ... aus der Hand. "Neiiiiiiiiinnnnnn!"
Und schon liegt es auf dem Boden ... eines Dixi-Klos. Oh
Gott! Manchmal müssen wichtige Entscheidungen schnell
getroffen werden und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.
In Bruchteilen einer Sekunde entscheide ich mich für
E-Coli oder sonstwas, hebe die Tüte auf, reiße
den Verschluss runter und - "Glibber" trifft es
wohl einigermaßen. Nach Beendigung des geschäftlichen
Teils der Aktion, Hose hochgerissen, raus auf die Strecke.
Ich komme mir etwas blöd vor, zum Glück stehen
die Klos an nicht allzu prominenter Stelle. Direkt 2 Becher
Wasser geschnappt, einer für das Gel, der andere für
die Hände und den Mund - uahhhh. Die Kloaktion hat
mich 1:10 min gekostet. Aber was hilft all das Jammern -
an die Alternative mag ich nicht denken.
Bei KM 32 stehen dann überraschend mein Patenkind
mit Zwillingsschwester und ihr Vater. Das motiviert dann
nochmal. Ich weiß, in Buchholz kommt nochmal meine
Frau und dann noch die Familie eines Freundes und der Markt
wo immer tierisch was los ist. Hier sehe ich dann auch die
3h Truppe ca. 45 Sekunden vor mir. Und da mein Laufgefühl
nicht besser wird, ist mir spätestens hier klar, dass
für mich das Projekt 179 - also eine 2:59:xx für
diesmal gestorben ist. Jetzt will ich das Kind wenigstens
noch anständig nach Hause schaukeln.
KM 35 passiere ich bei 2:29:31 h und so langsam habe ich
keine Lust mehr. Die Sonne scheint, es wurden weniger Zuschauer
und ich denke tatsächlich darüber nach, mal ein
paar Meter zu gehen - oder den Bus zu nehmen. Mein linker
Oberschenkel tut so langsam mehr weh, als der Ischiasschmerz
im rechten Bein - und der ist schon nicht gerade angenehm.
Auch die Waden fühlen sich an wie die dicken Rheinkiesel.
Den Hammermann habe ich nicht getroffen, es tat einfach
nur scheiße weh und es läuft sich immer schwerer,
die Kilometer dehnen sich im Raum-Zeit Kontinuum und ich
will nur noch endlich ankommen. Auch einen Mythos Marathon
kann ich nicht entdecken. Wieso ist ein Marathon so anders
als die kürzeren Strecken? Anders ist, dass man die
Renneinteilung vielleicht lieber gleichmäßig
einteilen sollte, aber hinterher ist man immer schlauer.
Es ist einfach nur ein schweinelanges Stück Straße.
"Da lernst du dich und deinen Körper neu kennen!"
- solche Sprüche hatte ich vorher gehört. Hey
Leute - ich nenne das zu wenig Training. Auch ein 10er oder
ein Halbmarathon tun verdammt weh, zwar nicht so lange,
aber anders.
Die Kilometer ziehen sich. KM 40 passiere ich bei 2:52:17
h. Da hinten kommt der rote Lappen - noch ein ätzender
Kilometer. Jau - ich bin ganz schön platt. Als ich
vor dem Stadion ankomme, plappert der Sprecher: "Warum
kommt im Moment keiner? Es ist eine Zeit die keiner will,
so knapp über 3!" Dann erzählt er noch was
von Pest und Cholera, aber ich fühle mich gold. Nicht
nötig, dass der Sprecher mich tröstet, er tut
es trotzdem. Dann noch eine einsame Runde im Stadion - da
sind meine Groupies ja auch - und in 3:02:33 h jogge ich
über die roten Matten. Das große Ziel knapp verpasst
- aber auch wenn ich die WC-Zeit und Versorgunsstellenverluste
abziehe, komme ich noch nicht unter 3 Stunden. Die ist definitiv
noch nicht sicher drin. "Eine bessere Renneinteilung"
- ja, dann wäre es kanpp geworden. Aber "vielleicht"
und "wäre" zählen nicht. Ich bin trotzdem
zufrieden. Nochmal? So schnell nicht!
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